Ein Wort, viele Bedeutungen

Wie wäre es, wenn alle betroffenen Menschen ihren verzerrten Blick auf fremde Kulturen ändern würden? Könnten wir uns dann mit allen Menschen der Welt eindeutig verständigen? Wir könnten uns z.B. in Japan aufhalten und mit allen Japanern und Japanerinnen problemlos plaudern. Das wäre großartig! Würden wir aber den Wörtern und Begriffen die gleiche Bedeutung verleihen? Die Geschichte einer Japanerin in der Schweiz zeigt, wie tiefgreifend kulturelle Graben sind und welchen Einfluss sie auf die Kommunikation haben.

Ich war schon immer überzeugt, dass der beste Schlüssel zu den Geheimnissen einer Kultur in der lokalen Sprache liegt. Deshalb meldete ich mich vor sechs Jahren für einen Japanisch-Kurs an der Volkshochschule Zürich und lernte die Sprachlehrerin Misaki kennen.

Ein fatales Missverständnis

Misaki ist seit 14 Jahren mit einem Schweizer Bürger geheiratet und lebt seither in Zürich. Sie arbeitet als Teilzeit-Sachbearbeiterin in einem Schweizer Unternehmen und unterrichtet Japanisch an der Volkshochschule Zürich. Sie ist eine fleissige Lehrerin, die perfekt Deutsch spricht. Nach den ersten Unterrichtsabenden habe ich schnell gemerkt, wie schwierig die japanische Sprache ist. Deshalb entschied ich mich, Privatstunden bei Misaki zu nehmen.

Während einer dieser Privatlektionen, erzählt mir Misaki, dass sie soeben das jährliche Mitarbeitergespräch mit ihrem Vorgesetzten hatte. Ihre Stimme und ihr Gesichtsausdruck wirken ernst, enttäuscht und etwas traurig, als sie mir anvertraut, dass ihr Chef mit ihrer Leistung nicht ganz zufrieden ist. Ich frage:

  • Hat er gesagt, was ihm nicht gefällt?
  • Hmm, ja, irgendwie schon… er sagt, ich sei zu bescheiden
  • Ach, so! und was meint er damit?
  • Hmm, ich weiss nicht genau, ich glaube, ich soll Initiativen ergreifen
  • Hast du ihn nicht gefragt?
  • Nein, nein, er ist mein Chef…

Verzerrter Blick auf Kulturen - Junge Japanerin im Gespräch mit Ihrem Chef

Verzerrter Blick auf Kulturen – Kulturen verstehen ist Key

Das Urteil des Chefs anzufechten ist für Misaki ein No-go. Sie muss die Kritik schweigend einstecken und sie nicht zurückweisen. Als Japanerin hat sie gelernt, mit Mehrdeutigkeit umzugehen. Deshalb fragt sie nicht, sondern versucht die Kommentare ihres Chefs zu deuten. Zu viel fragen ist nicht höflich. So ist die japanische Kultur.

Was meint ihr Chef genau mit „Bescheidenheit“? Selbst Misaki ist darüber nicht klar, so dass ich nur eine Hypothese stellen kann: Ihr Chef erwartet von Misaki, dass sie ihre Meinung spontan äussert und sie sich je nach Situation kritisch äussert sowie eigene Entscheidungen ergreift. Damit würde sie sich nach europäischen Normen verhalten.

An dieser Erwartung liegt nichts Falsches, wäre Misaki nicht in Japan geboren und erzogen worden. Dort ist Bescheidenheit eine Tugend, die tief in der Kultur aller Japaner und Japanerinnen verankert ist. Es ist auch ausgerechnet diese Kultur, die es ihr verbietet, den Vorwurf ihres Chefs in Frage zu stellen. Sie akzeptiert die Kritik und sucht nicht nach deren Begründung. Weiss ihr Chef über die Bedeutung von Bescheidenheit in der japanischen Kultur? Wahrscheinlich nicht. Somit mündet die Kommunikation in eine Sackgasse. Schade!

Misaki begegnet ihrem Chef mit grossem Respekt, ja, mit Unterwerfung, ist man versucht zu sagen. Ist Bescheidenheit, Zurückhaltung und Gehorsam als Unterwerfung zu deuten? In der japanischen Kultur jedenfalls nicht. Wie in allen ostasiatischen Kulturen entsprechen diese Werte gesellschaftlichen Normen.

Individuum versus Gemeinschaft

Kinder aus den westlichen Ländern werden zu Individualisten erzogen. Im Frühalter lernen sie, ihre Meinung zu äussern, zu widersprechen und sogar zu rebellieren. Sie werden von den Eltern meistens dazu ermutigt. In ostasiatischen Kulturen steht nicht das Individuum im Vordergrund, sondern die Gemeinschaft. Shinobu Kitayama, Professor an der University of Michigan, und Hazel Markus, aus der Stanford University, forschen seit vielen Jahren gemeinsam im Bereich der interkulturellen Psychologie. Die zwei folgenden Anekdoten sind ihren Studien entnommen. Die erste hat mit einer Sorge zu tun, die allen Eltern der Welt teilen, nämlich, wie soll man ein Kind zum Abendessen bewegen, wenn es nicht will? Laut Markus und Kitayama würden amerikanische Eltern ihrem Sprössling sagen: „Denke an die hungernden Kinder in Äthiopien, und schau, wie viel Glück du hast, anders als sie zu sein!“.  Laut Kitayama und Markus würden japanische Eltern ihrem Kind sagen: „Denke an den Bauern, der so hart gearbeitet hat, um diesen Reis für dich zu produzieren; wenn du es nicht isst, wird er traurig sein, denn seine Bemühungen werden vergeblich gewesen sein“. Wie Sie sehen, ein verzerrter Blick auf Kulturen findet schon im Kinderalter seinen Nährboden. Die Stammkultur ist zwangsläufig in der Kindererziehung integriert . Hier ist eine zweite Anekdote: Auf der Suche nach mehr Produktivität forderte ein kleines texanisches Unternehmen seine Mitarbeiter auf, in den Spiegel zu schauen und jeden Tag hundert Mal zu sagen „Ich bin schön“, bevor Sie zur Arbeit kommen. Mitarbeitende eines kürzlich eröffneten japanischen Supermarkts in New Jersey wurden angewiesen, den Tag so anzufangen, dass sie sich die Hände halten und einander sagen, dass „er“ oder „sie schön ist“.

Kulturelle Wurzeln werden früh nach der Geburt durch Erziehung und Umfeld gebildet. Später wird diese Kultur durch soziale Interaktion gelebt und auch, zumindest teilweise, genetisch von einer Generation zur Nächsten weitergegeben. Sowohl Asiaten als auch Europäer wissen, was Worte wie Bescheidenheit, Höflichkeit oder Respekt bedeuten. Diese Werte haben jedoch in jeder Kultur einen anderen Stellenwert und werden unterschiedlich gelebt. Das wäre auch so, wenn wir weltweit nur eine Sprache lernen würden. Auf die Kultur kommt es an.

Verzerrter Blick auf Kulturen – Stärke der eigenen KulturJapanische Frauen im Tempel

Diese Geschichte von Misaki erinnert mich an eine andere Anekdote, welche die Höflichkeit, die Demut und den Respekt der Japaner illustriert. Keigo war auch ein in der Schweiz wohnender Japaner, der in meiner damaligen Abteilung angestellt wurde. Wie Misaki ist er stets sehr respektvoll. Eines Tages biete ich ihm an, uns zu duzen und mich als Noureddine anzusprechen. Er gerät dabei in Verlegenheit und lehnt höflich, aber entschieden ab. Er könne sich nicht vorstellen, mir als Abteilungschef „du“ zu sagen. Ich sei ein „grosser“ Chef und mir gebühre tiefer Respekt, argumentiert Keigo. Trotzdem spüre ich, dass mein Angebot ihn vor ein kniffliges Thema stellt. Seine Kultur fordert ihn einerseits, eine bestimmte Distanz zu mir zu bewahren, und gleichzeitig ist er bestrebt, meinen Wunsch zu erfüllen. Ein paar Tage später findet er eine Lösung für sein Dilemma und macht mir einen Vorschlag. Mit meinem Einverständnis würde er mich als „Yous-San“ ansprechen. Nicht mehr „Herr Yous“, nicht „Noureddine“, sondern Yous-San. Nur so viel Nähe wäre für ihn akzeptabel. „San“ ist eine formelle japanische Anrede, die den Respekt für den Gegenüber hervorhebt. Ich schmunzle dabei und akzeptiere, weil ich keine Chance habe, ihn zu überzeugen und, ehrlich gesagt, mir gefällt diese japanische Anrede. Er wirkt erleichtert. Keigo wird nach 20 Jahren Einsatz bei mir in der SIX Group in Zürich auf eigenem Wunsch in die US-Filiale verlegt. Ich habe ihn noch ein letztes Mal am Sitz der SIX USA in Stamford (CT) getroffen. Nach so vielen Jahren in der Schweiz und schon sechs Jahre in den USA, zeigt er sich wie immer auf seine Art sehr demütig, respektvoll, freundlich, unterhaltsam und spricht mich immer noch als Yous-San an. Unterdessen konnte sich mein verzerrter Blick auf Kulturen in Bezug auf Japan, Kuba, Russland, Oman Frankreich, Deutschland, USA und China etwas justieren. Doch weiss ich nicht, was ich von vielen anderen Kulturen halten kann. Ich versuche einfach, mir keine (Vor-) Urteile zu bilden.

Autor: Noureddine Yous

Fragen Sie nach unseren massgeschneiderten interkulturellen Trainings und Coachings. Eine erste Beratung ist kostenlos und unverbindlich.

Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.