Marokkanische Kontroverse über die Ehe

In der westlichen Welt erhitzt die Debatte um die „Ehe für alle“ die Gemüter und macht seit langem Schlagzeilen. Hier zu Lande geht es einerseits um die Erweiterung der zur Ehe zugelassenen sozialen Gruppen. Andererseits wird die traditionelle Ehe zwischen Frau und Mann in unseren Breitengraden immer weniger populär. In Marokko hingegen ist sie aktueller denn je. Und dort findet auch eine heisse Debatte statt, jedoch eine ganz andere. Es gilt für die Frauen, sich von den Zwängen der Tradition zu befreien, und zwar gegen den Willen konservativer Männer. Polygamie ja oder Polygamie nein? Dabei geht es nicht nur um moralische, sondern auch um rechtliche, soziale und psychologische Überlegungen, die das Problem als sehr komplex erscheinen lassen. Hajar Kitab, eine Sprachlehrerin aus Rabat erklärt uns diese Komplexität.

Sinn und Zweck der Ehe in den arabischen Ländern

Hajar Kita und die marokkanische Kontroverse über die Ehe

Autorin: Hajar Kitab, Sprachlehrerin aus Rabat

Die Ehe ist ein heiliges Band zwischen einem Mann und einer Frau. Sie trägt zum Aufbau einer zivilisierten Gesellschaft bei, indem sie Familien bildet, die Kinder und Eltern umfasst. Dieses Prinzip liegt seit jeher in der Natur des Menschen. Wenn ein Mann eine Frau heiratet, erhält er von Gott eine große Belohnung. Die Frage der Polygamie existierte schon vor dem Islam, wurde jedoch dann durch das islamische Gesetz geregelt. Das Gesetz beabsichtigte damals diese vorherrschende Form der Familie besser zu organisieren und zu regeln. Der Islam verfeinerte es, indem er die Polygamie nur unter Einhaltung von bestimmten Bedingungen zulässig machte. Die Religion förderte nicht aktiv die Polygamie und  verbot sie auch nicht gänzlich. Dabei sollte man daran denken, dass die Menschen damals keine Kranken- und Sozialversicherung kannten. Als Schutz für Witwen und Waisen gab es lediglich die Ehe als Institution. Dies erklärt den Inhalt des folgenden Koranverses: «Wenn du befürchtest, dass du den Waisen gegenüber nicht fair handeln kannst – dann heirate die Frauen, die du magst – zwei, oder drei oder vier. Wenn du aber befürchtest, dass du nicht fair zu ihnen sein wirst, dann heirate eine, oder bleibe bei derjenigen, die du bereits hast. Das macht es unwahrscheinlicher, dass du in Voreingenommenheit verfällst» [Sure Al-Nisaa: 3]

Was sich aus diesem Prinzip schliessen lässt

  • Die Polygamie beseitigt die weit verbreitete Jungfräulichkeit in arabischen Gesellschaften. Statistiken zeigen, dass der Anteil der Mädchen, die nie geheiratet haben, ständig zunimmt. So erkennen wir die Weisheit der Scharia hinsichtlich der Zulässigkeit der Polygamie zur Beseitigung der Jungfräulichkeit.
  • Polygamie ist für den Mann notwendig, wenn seine Frau unfruchtbar ist, kein Kind zur Welt bringt oder krank ist. Oder sie kann ihren Mann sexuell nicht befriedigen.
  • Polygamie ist in islamischen Gesellschaften nützlich, in denen es häufig Krieg herrscht. D.h. dort, wo viele Witwen gibt und die Anzahl Frauen deutlich überwiegt.  Die Polygamie wirkt sich dann psychologisch positiv aus und bringt emotionale Befriedigung.

„Die Polygamie im heutigen Marokko“

Marokko ist ein islamisches Land, das den Bestimmungen des islamischen Rechts unterliegt. Deshalb übernimmt es die Zulässigkeit der Polygamie. Wir stellen fest, dass erfolgreiche Könige und Sultane, mehrere Frauen heirateten, u.a. aus politischen und sozialen Gründen. Dennoch beschränkte sich die Polygamie nicht nur auf Könige und Staatssymbole. Stattdessen praktizierten alle Mitgliedern der marokkanischen Gesellschaft die Polygamie, und zwar im Einklang mit den Prinzipien des islamischen Rechts. Die marokkanische Gesellschaft hat sich entwickelt und die Polygamie kann nicht mehr mit den ursprünglichen, sozialen Zielen gerechtfertigt werden. Marokkanische Frauen und Männer und die Kontroverse über die Ehe Vielmehr hat sich dieses Phänomen unkontrolliert ausgebreitet. Daher kam es mit den verschiedenen Tricks der Umgehung des geltenden Gesetz zu verschiedenen Formen von Ungerechtigkeit gegenüber Frauen. Frauen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzen, fordern die Beendigung der Polygamie als Beeinträchtigung ihrer Freiheit. Sie beklagen den Raub ihrer Persönlichkeit und Würde.  Sie fordern des Recht, ihre Weiblichkeit zu leben. In der marokkanische Gesellschaft ist der Mann i.d.R. der Hauptverdiener der Familie. Er ist heute aber nicht mehr in der Lage, mehr als eine Familie zu ernähren. Darüber hinaus hat die Verschmelzung arabischen Denkens mit dem westlichen Denken die Erwartungen von Männern und Frauen dramatisch verändert.

„Polygamie ist für marokkanische Frauen eine gehasste Sache.“

Egal wie sehr die Marokkanerin an der Islam-Lehre festhält und sich der Sunnah verpflichtet, sie betrachtet Polygamie heute als große Ungerechtigkeit. Dies gilt vor allem für Frauen in den Städten. In der ländlichen Gesellschaft kann die Frau nicht über ihr Leben frei entscheiden. Das Gesetz der Polygamie ist auf sie anwendbar. Somit verloben unfruchtbare Frauen andere Frauen mit ihren Ehemännern in der Hoffnung, dass sie ihnen Kinder zur Welt bringen. Sie entscheiden sich daher dafür, die Dienstmädchen einer jungen Frau zu sein, mit welchem sie ihren Ehemännern teilen.

Eine emotionale Debatte

Marokkanischer Garten mit schönen Palmen Während andere Stimmen die Legalisierung der Polygamie fordern, hat dies zu einer Spaltung zwischen Befürwortern und Gegnern einer Gesetzesänderung geführt. Für die Befürworter ist Polygamie nur das Spiegelbild einer Kultur, die laut dem Koran zulässig ist. Doch im Jahr 2004 wurde mit der Zunahme der Frauenproteste und der königlichen Intervention das Familiengesetzbuch ins Leben gerufen. Dieses regelt die Frage der Polygamie gemäss dem modernen Recht. Allerdings schränkte das marokkanische Familiengesetz die Polygamie ein, ohne sie ausdrücklich abzuschaffen. Aber man kann sagen, dass es ihm teilweise gelungen ist, die Polygamie einzudämmen. Das Familien-Gesetzbuch legt zwei Bedingungen für die Legalität der Polygamie fest:

– Die erste Bedingung ist, dass die Person, die Polygamie wünscht, finanziell in der Lage sein soll, zwei oder mehr Familien zu ernähren. Dies, unter gerechten Bedingungen für alle Familien-Mitgliedern.

– Die zweite Voraussetzung ist, dass ein Antrag auf Polygamie beim Richter mit einer objektiven und logischen Begründung dokumentiert ist.

Die Kontroverse über die Ehe auf den Strassen Meines

Bemerkenswert ist, dass das Gericht derzeit pflegt, die erste Ehefrau zu benachrichtigen. Diese wird gebeten, ihre Meinung in Bezug auf die Polygamie ihres Mannes zu äussern. Mit dem Gesetz konnte die Polygamie immerhin auf weniger als tausend Fälle pro Jahr gesenkt werden.

Der Kampf der Frauen Verbände

Aus all dem geht hervor, dass die Frauenverbände, die danach streben, die Polygamie zu kriminalisieren, trotz dieser geringen Fortschritte am Gewinnen sind. Die Polygamie ist mit den Menschenrechten und internationalen Konventionen, die die Gleichstellung von Frau und Mann vorschreiben, unvereinbar. Die Frauen wollen dem Beispiel Tunesiens folgen, wo die Polygamie kriminalisiert und unter der Verhängung von Strafen steht.  Das Artikel 18 des tunesischen Zivilgesetzbuches verbietet die Polygamie ausdrücklich. Jeder, der gegen dieses Verbot verstößt, wird mit körperlichen und finanziellen Strafen bestraft wird; „Wer im Stande vor der Auflösung der früheren Ehe heiratet, wird mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Geldstrafe von zweihundertvierzigtausend Franken oder einer der beiden Strafen bestraft.“

„Der Familienkodex und die marokkanische Realität“

Handwerker-Künstler in einer marokkanische Töpferei - Kontroverse über die Ehe Nach der Einführung des marokkanischen Familiengesetzes blieb jedoch innerhalb der marokkanischen Gesellschaft niemand von dem Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern verschont. Einige räumen ein, dass die Frage der Heiratserlaubnis dieses Phänomen einschränken könnte, da die Justiz die Einzige ist, die nach eigenem Ermessen die Polygamie akzeptieren oder ablehnen könnte. Richter können die erste Frau darüber informieren, aber was, wenn diese keine klare Meinung äussert? Es gibt eine andere Partei, die dieses Gesetz als Angriff auf die Ziele der islamischen Scharia und der prophetischen Sunna ablehnt. Diese Gruppe organisiert Demonstrationen und Proteste für die Abschaffung dieses Kodexes, zumal viele Anträge auf Polygamie aufgrund fehlender Rechtsgrundlagen gerichtlich abgelehnt wurden. Erhebliche Umgehungen des Gesetzes über Polygamie sind häufig. Die häufigste ist das Phänomen der sogenannte „Al-Fatihah-Ehe“. Dabei reicht eine undokumentierte Ehe mit Bezeugen und Aussprechen der Sure Al-Fatihah durch die betroffenen Männer, um die Polygamie zu rechtfertigen. Dieser Trick wurde hauptsächlich in der konservativen Gesellschaft angewendet, unter dem Vorwand, dass „Unsere Polygamie viel besser ist als die Polygamie mit Konkubinen, die im Westen und in liberalen Kreisen üblich ist. Was dabei zu beklagen ist, ist vor allem der Verlust der Rechte der zweiten Frau. Und wenn es Kinder gibt, wären sie rechtlos, würde die Justiz die Betroffenen Männer nicht zwingen, die Ehe zu dokumentieren. Dies, nicht zuletzt zum Schutz der Kinder und ihrer Rechte, die aus der Fatiha-Ehe hervorgehen.

Wie geht es weiter mit der Kontroverse über die Ehe?

Abschließend lässt sich festhalten, dass die Ehe eine anspruchsvolle Institution ist, die auf Wertschätzung, Zuneigung und Respekt basiert. Marokkanischer Kupfer-Künstler in Meines Marokko Einerseits behaupten einige, dass es sich um eine Institution handelt, die nur zwischen einem Ehemann und einer Ehefrau vollzogen werden kann. Dies sei der Grund dafür, dass der Mensch wächst und zivilisierte Vollkommenheit erreicht. Andere behaupten, dass Polygamie eine Lösung angesichts der Realität ist, in welcher der Anteil der Jungfern und des moralischen Verfalls zugenommen hat. Es geht um eine gesellschaftliche Institution, die schliesslich den Schutz der Frauen gewährleistet. Diese Meinung bestätigt, was der französischer Arzt und Psychologe Gustave Le Bon (1884) in seinem Buch „La Civilisation der Arabes“ lobte: „Das System der Polygamie ist ein gutes System, das das moralische Niveau unter den Nationen, die es umsetzen, erhöht, die Bindung zwischen Familien stärkt und Frauen Respekt und Glück verschafft, die man in Europa nicht findet». Meinte er das auch für das französische Volk?

Diese erhebliche Meinungsverschiedenheit lässt nich ahnen, was die Zukunft bringen wird. Werden wir Zeuge einer Ära sein, in der die marokkanische Gesellschaft, wie der Rest der Muslime und die Welt, die Idee der Polygamie aufgibt und sich von den Zwängen der Antike befreit, sich öffnet und sich an die internationale Gemeinschaft anschliesst. Oder wird sich dieses Phänomen kontinuierlich weiter ausbreiten, da in der marokkanischen Gemeinschaft ein großer Teil der Bewusstlosigkeit und Ignoranz herrscht?

Autorin: Hajar Kitab, Lehrerin an der Qalam wa Lawh Center for Arabic Studies

Originalversion in arabisch, Übersetzung durch Intermedio, Zurich.

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