Die Annahme «Mann-ist-Mann und Frau-ist-Frau» beruht auf dem Prinzip, dass es bloss zwei Geschlechter gibt, nicht mehr und nicht weniger. Frauen haben weibliche Sexualhormone, die ihnen einen weiblichen Körper verleihen und ein typisch weibliches Verhalten unterstützen. Umgekehrt leiten die Sexualhormone von Männern einen männlichen Körper ein und fördern ein typisch männliches Verhalten. Diese Annahme ist aber falsch. In manchen Fällen ist das Geschlecht nicht eindeutig. Wie lässt sich das erklären?

Das genetische Geschlecht…

Der Prozess der Geschlechtsbildung fängt bei der Befruchtung mit der Übertragung der Gene der Eltern an.  Ähnlich einem Computer-Programm, liefert Die DNA[1] (fast) jeder unserer Milliarden Zellen den Code zum Aufbau von Proteinen, die der Körper braucht für seine Entwicklung und sein Überleben. Wir alle haben je einen Strang von 23 Chromosomen [2]  unseren Eltern geerbt, d.h. 23 Chromosome von der Mutter und 23 vom Vater. Die miteinander verbundenen Stränge sehen aus wie zwei verdrillte Drähte (siehe DNA-Bild) und unterscheiden sich nur bei dem 23. Paar (den Geschlechtschromosomen). Dort haben Frauen einen XX- während Männer ein XY-Biologisches versus genetisches Geschlecht intermedio.ch Chromosomenpaar aufweisen. Bei der Befruchtung der Eizelle entscheidet die Kombination der Gene der Eltern, ob ein (genetisch) männliches Embryo oder ein weibliches Embryo erzeugt wird. Ein mit einer X-Spermazelle befruchtetes Ei ergibt ein «genetisch» weibliches Embryo. Wird die Eizelle von einer Y-Zelle befruchtet, ergibt sich ein (genetisch) männliches Embryo mit XY-Geschlechts-chromosomen. Aber Achtung! In dieser Phase geht es nur um die Übertragung einer genetischen Information. Sonst ist noch nichts in Bezug auf das spätere Geschlecht entschieden. Die innere Genitalwege (Vorläufer der Geschlechtsorgane) sehen bei Frauen und Männern nämlich genau gleich aus – zumindest bis zur 6. Woche nach der Befruchtung.

…versus das biologische Geschlecht

Ist das Embryo genetisch weiblich (XX-Chromosome) und es passiert nichts Besonderes, wird ein weibliches Baby geboren. Haben wir es aber mit einem XY-Chromosomenpaar zu tun, muss noch einiges passieren, damit das als (genetisch) männlich definiertes Embryo entsprechende Genitalien bekommt. Vereinfacht gesagt, muss ab der 7. Woche nach der Befruchtung ein wichtiges Hormon [3], das Testosteron produziert werden, was die Bildung von männlichen Genitalien fördert und gleichzeitig die Bildung von weiblichen Genitalien hemmt. Allerdings müssen Hormone an entsprechende Rezeptoren (Hormon-empfangende Zellen) binden können, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. Aus unbekannten Gründen funktionieren diese Rezeptoren manchmal nicht. Die Hormone können nicht an die Rezeptoren binden. Wir haben es dann mit einem sogenannten Androgen-resistenten Mensch zu tun. Als Konsequenz, läuft nun der Prozess verkehrt. Die männlichen Genitalien werden gehemmt und die Entwicklung von weiblichen Genitalien wird gefördert. Ein Baby mit weiblichem Körper und männlicher DNA kommt zur Welt.

Körperliche Veränderungen gibt es erst wieder im Pubertätsalter. Unter dem Einfluss von anderen Hormonen verbreiten sich dann die Hüfte und es entwickeln sich weibliche Brüsten. Der Körper nimmt weibliche Formen an. Die Person ist aber nicht ganz eine Frau, da Androgen-resistente Menschen keine Kinder zeugen können.

Die Notwendigkeit, Vorurteile abzubauen

Der Mann-ist-Mann-und-Frau-ist-Frau-Prinzip kennt die Natur nicht. Menschliche-Körper entwickeln sich nicht selten als eine Mischung von Frau und Mann, was die betroffenen Personen vor ein schier unlösbares Problem stellt. Neben der ambivalenten Entwicklung des Körpers stellt sich die Frage, zu welchem Geschlecht sich solche Personen zugehörig fühlen. Fühlen sie sich als Frau oder als Mann? Dass unsere Wahrnehmung in solchen Fällen eine entscheidende Rolle spielt, zeigt die Geschichte von David Reimer, ein Mann der als Kind seinen Penis verloren hatte und folglich als Frau umgebaut wurde. Dieses Video erzählt die unglaubliche Geschichte von David Reimer.

Je nach dem, fühlen sich Androgen-resistente Menschen von einer Seite oder der anderen angezogen. Der Entscheid zum Körperumbau dürfte trotzdem gar nicht leichtfallen. Auf das Leben danach dürften die Betroffenen mit Hoffnung aber auch grosser Unsicherheit blicken. Die Belastung ist enorm. Diese Menschen brauchen Unterstützung, besonders am Arbeitsplatz. Eine systematische Aufklärung über dieses Thema in Unternehmen kann dazu beitragen, Vorurteile abzubauen indem den Betroffenen eine unterstützendes Umfeld geboten wird.  Arbeitgeber und insbesondere ihre Personalabteilungen können Wesentliches dazu beitragen.

Mann ist Mann und Frau ist Frau. Diversität am Arbeitsplatz

 


Für Leser, die es wissenschaftlich genauer wissen wollen

Durch die Verschmelzung von Geschlechtszellen bei der Befruchtung entsteht eine Zygote [4]. Danach teilt sich die Zygote, und bildet das Embryo. 6 Wochen nach der Befruchtung haben sowohl Männer als auch Frauen immer noch zwei vollständige Paare von Genitalwegen. Beide besitzen Wolff-Gänge, die sich zu den männlichen Genitalien und Müller-Gänge, die sich zu den weiblichen Genitalwegen entwickeln können. Bei einem XX-Embryo entwickeln sich ab dem 3. Schwangerschaftsmonat weibliche Geschlechts-organe. Bei einem XY-Embryo wird hingegen in der 7. Woche ein bestimmtes Gen aktiviert, das ein Protein namens TDF(Testis-determining-Factor = Hoden-determinierender Faktor) erzeugt. Das TDF-Protein macht aus den Gonaden [5] Hoden, die nun selbst anfangen, zwei Hormonarten zu erzeugen. Das erste ist das Anti-Müller-Hormon. Dessen Rolle ist es, alle Voranlagen für innere weibliche Organe aufzulösen. Das zweite Hormon gehört zu den Androgenen, wobei Testosteron das wichtigste ist. Das Anti-Müller-Hormon löst den Müller’sche Gang auf, die Androgene können nun ihre vermännlichende Wirkung ausüben und leiten die Bildung der Hoden und der übrigen männlichen Geschlechtsorgane ein.
Ist das Embryo Androgen-resistent, lösen sich die männlichen Geschlechtsorgane teilweise wieder auf. Es entwickeln sich anstatt dessen weibliche Organe. Wenn später in der Pubertät die Hoden (sie wurden nicht komplett aufgelöst) grosse Mengen von Testosteron erzeugen, wird ein Teil dieses Hormons als Östradiolkonvertiert. Östradiol leitet die Verbreitung der Hüfte und die Entwicklung von weiblichen Brüsten ein. Der genetisch definierte Mann lebt in einem weiblichen Körper, der keine Kinder zeugen kann.


[1] Die DNA ist die Trägerin der Erbinformationen. Ein Gen ist ein Abschnitt der DNA, der (oft in Kombination mit anderen Genen) bestimmte physische oder psychische Merkmale von Personen steuert.
[2] Chromosomen sind die Strukturen, die Ihre Gene enthalten und die sich im Inneren jeder Zelle befinden[2] [3] Hormone: Chemische Substanz, die von einer Zellgruppe oder einer Drüse produziert wird und eine spezifische Wirkung auf die Funktion eines Organs ausübt.
[4] Zygote: Die Zygote ist die Zelle, die nach der Vereinigung von Sperma und Eizelle entsteht. Sie leitet die Bildung unseres Organismus ein. Sie wächst nach einigen Wochen zu einem Embryo.
[5] Gonaden: Die Gonaden sind die Organe des menschlichen Körpers, in denen die Keimzellen für die Fortpflanzung und die Sexualhormone produziert werden. Sie entwickeln zu Hoden bei den Männern bzw. zum Uterus bei den Frauen

Autor: Noureddine Yous, Intermedio

 

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